
Wir kennen das grosse Elend vieler Tiere in Form von physischer und psychischer Gewalt, von Misshandlungen, Verwahrlosung, Tiertransporten, Forschung am lebenden Tier und so fort. Was uns viel weniger bewusst oder bekannt ist – weil es meist nicht direkt vor den Augen der grossen Öffentlichkeit geschieht – sind die subtilen Formen des Tierelends; und diese sind viel verbreiteter als wir es uns vielleicht vorstellen; und gerade wegen ihrer Subtilität gibt es noch kaum einen Schutz dieser Tiere durch irgendwelche gesetzlichen Vorschriften. Aus den vielen Arten dieses Elends möchte ich ein Beispiel herausgreifen. Am Anfang dieser Geschichten steht meist der Gedanke: „Ich möchte ein Pferd haben“ (oder ein Pony oder einen Esel usw.!). Die Konsequenzen, die ein solcher Entscheid mit sich bringt, überdenkt man viel zu wenig. Das Pferd, noch ein süsses, munteres Fohlen, wird gekauft; vorerst bleibt es ja auf der Fohlenweide, man besucht es, macht erste Übungen mit ihm, nimmt sich Zeit, verwöhnt es mit Naschereien. Dann kommt der Zeitpunkt, wo man das Pferd zu sich holt. Wunderbar! – Doch nun beginnt der Alltag: das Tier muss gefüttert, gepflegt, eingeritten werden. Die Stallarbeit ist viel zeitraubender und anstrengender als man es sich vorgestellt hat. Daneben hat man ja meistens noch einen Job; man will vielleicht Karriere machen oder eine Familie gründen und Kinder erziehen; ein Anrecht auf Ferien oder länger dauernde Ausbildungen, Sprachkurse im Ausland usw. hat man doch auch noch – oder ? – und der Partner wird langsam unzufrieden, weil man für ihn auch keine Zeit mehr hat. Aber das Pferd ist da. Es bräuchte jetzt tägliches, intensives Reittraining; Aufbauarbeit an der Longe. Es bräuchte Artgenossen und grosse Weiden, wo es sich neben der Konzentration des Lernens austoben könnte. Und es bräuchte vor allem eine konsequente, geduldige Führung, damit es versteht, was von ihm verlangt wird. Die Tiere kommen nicht „böse“ zur Welt, auch nicht aus gewissen Zuchtlinien. Aber ein Pferd wird gross und kräftig; und wenn sein Meister, seine Meisterin nicht das Verständnis, den Mut, die Geduld und das Können hat, für sein/ihr Pferd das Alphatier zu sein, wird das Pferd früher oder später diese Rolle selbst übernehmen. Dann lernt es, seine Kraft auszuspielen, den Reiter auszutricksen und abzuwerfen, durchzubrennen, zu steigen und zu bocken; schlimmstenfalls auch zu beissen und zu schlagen. Es kommt zum Machtkampf, anstatt zum verständnisvollen Miteinander (sieht da jemand Parallelen zum zwischenmenschlichen Verhalten…?). Die Folgen des vorliegenden Falles: das Pferd wird unreitbar. Die Hilfe einer Fachperson wird nicht gesucht. Von nun an bleibt das Pferd im Stall. Es hat nicht einmal einen Artgenossen oder ein kleineres Tier als Gesellschaft bei sich. Ab und zu darf es vielleicht auf einen winzigen Paddock; aber für ein Pferd, das in der freien Natur täglich stundenlang in Schritt, Trab oder Galopp unterwegs wäre, ist diese Stall- und Einzelhaltung eine Folter, mag es daneben noch so gut gefüttert werden. Ein solcherart verwahrlostes Pferd steht jetzt im Samana Wasi. Die Besitzer hatten sich selber an mich gewandt, nachdem beim örtlichen Tierschutz eine Klage gegen sie eingegangen war. Es ist den Besitzern zugute zu halten, dass sie ihr kerngesundes Tier nicht einfach dem Metzger übergeben haben. Aber sie hätten dem Pferd grosses Leid erspart, wenn sie ihm viele Jahre früher einen guten Platz gesucht hätten. Es braucht nun von unserer Seite her enorm viel Kraft, Zeit, Geduld und Pferdeverständnis, um ihm im Alter von 15 Jahren all das Versäumte noch beizubringen: das Pferd strotzt vor Kraft und Selbstbewusstsein und kennt so ziemlich alle Tricks, seinen Willen durchzusetzen. Der Weg zueinander führt auch hier über eine liebevolle Verständigung und eine klare Rollenverteilung. Ich bin sicher, dass es gelingen wird. Ruth Maurer, Januar 2007